Der alte Mann und das Kind

Einen Augenblick innehalten

 

Man hält viel durch, kann sich immer wieder motivieren, verzweifelt nicht an der Lage, weil man ja weiß, es geht anderen gleich. Man hält sich mit Kritik zurück, da es eine demokratische Verpflichtung gibt, nicht wild um sich zu schlagen, sondern zuerst nachzudenken, zu beobachten und sich eine eigene Meinung zu bilden, anstatt zu übernehmen, was an einen herangetragen wird.

Doch dann, wie aus dem Nichts durchbricht ein winziger Augenblick die wohlaufgetürmten Verhaltensmuster der Stärke. Zwei Augenblicke, um genau zu sein. Sie sind wie Spiegel zueinander und haben durchaus mit Politik zu tun, wenngleich aus anderer Perspektive.

Da ist zunächst das Kind, das als Aufgabe in der ersten Volksschulklasse ein Bild davon zeichnen soll, was es derzeit gerne macht. Das Kind zeichnet ein Fahrrad. Sein blondes Haar leuchtet knallgelb wie eine Sonne. Es könnte die Geschichte eines Ausflugs sein. Doch da ist keine Landschaft, kein anderes Kind, keine Familie, kein Baum, kein Weg. Nur ein leuchtendes Mädchen und ein Rad. Darunter, so die Hausübung, soll mit einem Wort beschrieben werden, wie sich die Schülerin fühlt. Sie schreibt: eingesperrt.

Gezeichnet von einem sechsjährigen Mädchen

Kurz darauf jener zweite Augenblick, vor einem Geschäft. Eine kleine Schlange hat sich gebildet, niemand darf eintreten. In der Warteschlange junge Frauen, alle mit Maske. Im Geschäft eine Angestellte mit Handschuhen und Maske. Ihre Körperhaltung zeigt, dass sie zum Kontrollieren dort steht. Ihre Augen verraten, dass sie dies ungern tut und dass sie sich Strenge aufzwingt, um nicht unsicher zu wirken. Im Eingang steht ein alter Mann, gebückt, sichtlich müde. Kaum kann er sich auf den Beinen halten. Seine Hände zittern, als er etwas in seiner Geldbörse sucht, die überquillt von Zetteln – und kein Geld sichtbar, um die Maske zu kaufen, die er braucht, um eintreten zu dürfen. Vor ihm die Kontrolle, hinter ihm neugierige und ungeduldige Blicke.

Beide Szenen nur im Vorbeigehen wahrgenommen.

Nichts davon ist an einen selbst gerichtet. Weitergehen. Doch in den Szenen steckt Schmerz, der begleitet und nicht weggehen will. Das Kind, das nicht versteht, warum die Welt heute eine andere ist als vor wenigen Wochen, und warum das vielgeliebte Kinderzimmer zum Gefängnis ohne Freunde geworden ist. Auf der anderen Seite der alte Mann, der all das schon einmal erlebt hat. Wenngleich ganz anders. Was fühlt ein Mensch, der in der Diktatur aufgewachsen ist, für den das Schlangestehen für Lebensmittel eine der ersten Kindheitserinnerungen ist, der schon einmal, viel früher, sah, wie Menschen kontrolliert wurden, ehe sie Einlass bekamen?

Es wird viel davon gesprochen, welche Freiheiten uns als Einzelnen derzeit genommen werden. Deren Sinn oder Unsinn. Dabei ist die eigentliche Frage eher die, wie man sich hinter seiner Maske verhält, was man tut, was man unterlässt. Das Kind mit dem sonnengelben Haar wird von seinen Eltern geliebt und gefördert. Es ist trotzdem einsam, fühlt sich trotzdem eingesperrt. Der alte Mann lebt vielleicht allein. Der Gedanke, dass er zuhause niemanden antreffen wird, dem er davon erzählen kann, dass ihm heute der Zutritt zu einem Geschäft verwehrt wurde wie damals, ist unerträglich.

In all dem, wie „verhindert“ wir uns derzeit zuweilen fühlen, wäre es vorstellbar, den einen oder anderen Gedanken daran zu verschwenden, wie man jemandem ein paar Minuten Zeit schenken könnte – gegen die Einsamkeit. Und dann könnte man sich aufraffen und es tatsächlich tun.