Gewalt an Frauen ist kein Frauenproblem

Es ist ein Problem von allen. Jede fünfte Frau in Österreich ist betroffen.

 

Es gibt für alles einen Gedenk- oder Aktionstag, vom Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember bis zum Weltkatzentag am 8. August, vom Tag des deutschen Schlagers bis zum Weltpastatag. Und jeweils gibt es Menschen, denen diese Tage wichtig sind, beruflich, aufgrund eines Hobbys oder aus einer Erfahrung heraus. Manche dieser Tage wurden eingeführt, um zu sensibilisieren, wie der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Doch es können noch so viele Gebäude an jenem Tag orange beleuchtet werden, wie alle Gedenktage, bleibt der Wille zunächst symbolisch.

Dann werden Statistiken publiziert und Medienberichte verfasst. Wie die Kommentare unter solchen Artikeln zeigen, funktioniert die Sensibilisierung nur bedingt, weil das Wesentlichste fehlt: Bildung. So heißt es dann, dass man selbst keinen einzigen Fall kenne, dass das Problem zu sehr breitgeschlagen werde und Migranten die Schuld für die schlechte Statistik trügen. All diese Kommentare liegen falsch – und das ist nachweisbar.

Gewalt an Frauen ist kein Frauenproblem

Wenn jede fünfte Frau ab 15 Jahren in Österreich physischer oder sexueller Gewalt (häufig beidem) unterworfen ist, dann ist es statistisch gar nicht möglich, keine Betroffene zu kennen. Nur erfährt man es meist erst, wenn es zur Katastrophe gekommen ist. Seit einigen Jahren gehört Österreich zu den Ländern Europas, in denen die meisten Morde an Frauen geschehen, monatlich zwei bis drei. Als Gesellschaft müssen wir uns fragen, was wir verabsäumen.

Gewalt an Frauen ist weltweit die häufigste Menschenrechtsverletzung. Sie geschieht in allen Gesellschaftsschichten. Gewalt an Frauen ist kein Frauenproblem. Sie hat Folgen für alle. Sofern man nicht direkt betroffen ist, sind die Opfer der Gewalt unsere Nachbarinnen, unsere Arbeitskolleginnen, unsere Freundinnen. Nur weil sie nicht darüber sprechen, bedeutet das nicht, dass keine Gewalt stattfindet. Der Ausweg: genau hinhören. Betroffene von Gewalt sprechen häufig über ganz andere Dinge, quasi Unwichtiges, und nur zwischen den Zeilen oder nach langem Zuhören öffnen sie sich soweit, dass sie sich mehr zu sagen getrauen als: „Er hat es ja nicht so gemeint.“

Eine gesellschaftliche Herausforderung

Dass Frauen selten über ihre Gewalterfahrungen sprechen, hängt auch damit zusammen, dass ihnen häufig eine Teilschuld zugeschoben wird. So glaubt jede vierte Person in Österreich – ja, auch Frauen – dass eine betroffene Frau Mitschuld an der Gewalt gegen sie trägt. Nahezu immer heißt es, die Frau habe ihn verlassen wollen, sie habe ein Verhältnis gehabt, sie habe arbeiten gehen wollen oder was auch immer. Es wird eine Erklärung gegeben, warum der Mann gewalttätig geworden ist. Das kommt einer Rechtfertigung gleich. Mit Erklärungen, wollen wir uns als Gesellschaft beruhigen. Doch es bleibt eine Tat und die Gesellschaft muss lernen, dass kein Verhalten Gewalt rechtfertigt.

Die Corona-Krise verschlimmert die Situation

Beleuchtete Parkplätze, Frauentaxis sind gute Maßnahmen, doch der Großteil aller Gewalttaten gegen Frauen findet in der Familie statt. Das Jahr 2020 macht die Situation nicht besser. Was im Frühling vermutet wurde, zeigt sich inzwischen deutlich: Die Frauen-Helpline (0800 / 222 555, kostenlos und rund um die Uhr) verzeichnet einen 40-prozentigen Anstieg des Beratungsaufkommens. Die Dunkelziffer an Fällen dürfte wesentlich höher liegen.

Es mag absurd klingen, doch von Gewalt betroffene Frauen machen sich großteils Sorgen um ihren Mann und fragen sich, wohin er im Lockdown verwiesen werden kann. Auch sie selbst haben weniger Möglichkeiten für eine Flucht. In Frankreich, wo die Gewaltdelikte in diesem Jahr besonders gestiegen sind, werden Hotelzimmer bereitgestellt und Beratungsgespräche mit Juristen und Psychologen in Apotheken und Supermärkten angeboten, weil viele Frauen nicht wissen, wohin sie sich im Lockdown wenden können.

Eine Aufgabe der Gesellschaft

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, das Schweigen zu beenden. Tatsächlich gibt es nur ein wirklich wirksames Mittel: Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Das geht in alle Richtungen. Frauen müssen lernen, den Mut und das Recht zu haben, sich an öffentliche Stellen oder an Bekannte zu wenden. Männer wiederum müssen lernen, dass es andere Möglichkeiten als Gewalt gibt und dass Gewalt auch nicht mehr akzeptiert wird. Erst wenn die Gesellschaft den Lernprozess macht, klar zu sagen, dass physische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen kein Kavaliersdelikt sondern völlig inakzeptabel ist, wird sich etwas ändern.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt