Wenn die Ausnahme zur Regel wird

Über die sinkende Meinungsfreiheit in der Pandemie.

 

Der Umstand, dass die Demokratie viel aushält, ist nur ansatzweise beruhigend. Gerade dass Demokratie Raum, Pflege und Licht (im Sinne von Hoffnung) benötigt, hebt sie über jedes andere politische System empor. Die lästige Konsequenz daraus lautet, dass sie demgemäß die Bürger und Bürgerinnen braucht, um am Leben zu bleiben.

Menschen aber neigen zu Egoismus. Der Kapitalismus hat zudem den Individualismus als Maxime eingeführt, während anderes unverändert geblieben ist: Menschen tendieren auch zur Machtübernahme, wenn es ihnen möglich ist.

Die Flexibilität hin zum Machtmissbrauch

Der Schritt zum Machtmissbrauch führt entlang einer sehr feinen Grenze. Hinzu kommt, dass die Verfassung und weitere Gesetze eine gewisse Flexibilität besitzen. Dies ist notwendig, sowohl für den Fall einer Krise oder eines Konfliktes als auch für den Erhalt der Demokratie.

Der Schutz der Bevölkerung ist das Bindeglied, kann aber ebenso ein brauchbares Argument der Regierenden werden, um ihre Handlungen zu verteidigen. Das mag schlimmer klingen, als es ist, denn nur selten steht dahinter von Anfang an ein böser Plan.

Die Rückwende scheint praktisch unmöglich

Es gibt eine Krise, die Regierung reagiert – im besten Falle im Sinne des Schutzes der Bevölkerung. Wenn dies nicht dazu führt, dass die Krise verschwindet, wird es für die Demokratie und damit für die Bevölkerung in zunehmendem Maße unangenehm, ungemütlich und schließlich schrittweise gefährlich.

Eine Regierung gerät in der Folge in ein Fahrwasser, aus dem eine Rückkehr kaum mehr möglich scheint. Wie glaubwürdig wäre ein Bundeskanzler, der plötzlich verlautbarte: „Kümmern wir uns nicht mehr um Ansteckungszahlen. Vergessen wir Corona.“ Er und seine Minister würden damit ein schwieriges Jahr mit allen Opfern für nichtig erklären. Dies würde ihnen nicht verziehen. Dass es auch aus gesundheitlichen Aspekten nicht sinnvoll wäre, ist ohnehin offensichtlich.

Regierungen scheitern gewöhnlich nach der Krise

Paare, die gemeinsam durch ein Trauma gehen, finden in Hollywood ein Happy End. In der Realität fehlen häufig die Worte und die Fähigkeit, auszudrücken, was man selbst oder der andere braucht. Die Beziehung zwischen Volk und Regierung unterscheidet sich davon nur wenig. Jene Regierungen, die versucht haben, in einem demokratischen Land gegen die Pandemie vorzugehen, werden anschließend Schwierigkeiten haben. Das Volk hat genug von ihnen, gleichgültig, ob sie ihre Sache gut gemacht haben.

Man hat die Gesichter dieser Politiker zu oft in Zusammenhang mit negativen Botschaften gesehen. Das lässt sich kaum zurückspulen. So könnte es für einige Regierungspolitiker der Krise einen Karriereeinbruch geben.

Die Gefahr für die Demokratie beginnt erst jetzt

Die gefährlichste Zeit für die Demokratie und jene, die in einer solchen leben möchten, beginnt derzeit. Die Regierungen, die ursprünglich vor dem vielzitierten Virus schützen wollten, haben sich daran gewöhnt, das Leben ihrer Bürger bis ins kleinste Detail zu verwalten. Sie nehmen die Bevölkerung nicht mehr als selbstständige Citoyens wahr. Der Kontakt ist seit einem Jahr unterbrochen, die Krisenarbeit zur Krisenverwaltung verkommen. Für die Regierung ist es selbstverständlich geworden, durch Verordnungen zu regieren, das Parlament zu ignorieren und von einer Notmaßnahme in die nächste zu gehen, ohne ein Ende zu finden.

Macht neigt dazu, sich ständig neue Argumente zurechtzuzimmern, warum diese oder jene Regelung noch sein müsse, um danach das Gute erleben zu können. Diese Heilsbotschaft funktioniert nicht mehr. Je länger der Ausnahmezustand anhält, desto eher haben Personen aus der Querdenker- (und in zunehmendem Maße aus der rechtsradikalen) Ecke die Möglichkeit, dies für sich zu nützen. Dass ausgerechnet diese beiden Strömungen in sich alles andere als demokratisch agieren und in jedem Fall zu autoritären Systemen führen würden, ist jenen, die ihnen heute aus Verzweiflung folgen, noch unwichtig, denn das Mitgehen wird als einzige Möglichkeit zum Protest gesehen.

Auch ein Politiker ist „nur“ ein Bürger

In einem derart fragilen Moment weitere Grundrechte einzuschränken und Demonstrationen von vornherein zu verbieten, ist – höflich gesprochen – ungeschickt. Innenminister Karl Nehammer, seit seiner Reaktion auf die Abschiebung von vollintegrierten SchülerInnen und deren Eltern scharfer, berechtigter Kritik ausgesetzt, hätte an diesem Wochenende die Chance gehabt, zu beweisen, dass er auch in der Krise mehr kann, als zu verbieten.

Wenn einem Politiker Charisma fehlt, braucht er für seinen Machtanspruch das Einverständnis und die Rückendeckung der Bevölkerung. Ansonsten bröckelt die Macht. Manchmal gerät eine winzige Entscheidung zu jenem berühmten Tropfen im Fass. Die Kunst würde darin liegen, zu erkennen, wann dies der Fall ist. Man braucht dazu ein Ohr ganz nahe an der Bevölkerung – und die Erkenntnis, dass man trotz aller Machtansprüche, selbst „nur“ ein Bürger ist; spätestens dann, wenn man nicht mehr über die Regierungsmacht verfügt.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt