Freiheit zu verkraften, muss man erst lernen

Dieses Land braucht endlich wieder Kultur, um dies nicht zu vergessen.

 

Freiheit ist ein schönes Wort. Im Jahr 2020 war es ein vielstrapaziertes Wort. Das dürfte sich 2021 verstärken, denn Freiheit basiert nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Wahrnehmung. Letztere wird ununterbrochen beeinflusst von sozialen Zusammenhängen, Erziehung, Erfahrungen, Nachrichten, aber auch von Emotionen und von der Sehnsucht, geliebt und anerkannt zu werden. So ist Wahrnehmung nicht unbedingt an die Realität gebunden; genau so wenig wie die Wirklichkeit selbst.

Regierungen müssten sich weitaus mehr mit dieser fließenden Form der Wahrnehmung und den heiligen Begriffen der Bevölkerung auseinandersetzen. Freiheit ist solch ein Begriff. Kunst führt uns das seit Jahrhunderten in schönsten Formen vor.

Freiheit als Tochter der Wahrnehmung

Dabei könnte alles einfacher sein, wenn man in der Politik beachtete, was die Quantenphysik weiß: Wahrnehmung hängt von der Perspektive ab. Der Wiener Physiker Caslav Brukner hat dies im Jahr 2020 mit einem Gedankenexperiment zu Quantenuhren erneut bewiesen (LINK: https://science.orf.at/stories/3200895/). Es war eine von vielen wissenschaftlichen Entdeckungen, die zuwenig beachtet wurden, da die Konzentration auf nur einem Thema lag. Brukners Forschung könnte allerdings eine Hilfestellung in der aktuellen Freiheitsdebatte sein, denn sie erinnert daran, dass Realität nichts Fixes ist, sondern von unserer Wahrnehmung und unserem Willen zur Wahrnehmung abhängt.

Oder, wie Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol formulierte: „Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit“. Entsetzlicherweise hatte er nicht unrecht, denn manches lässt sich nur aus der Vergangenheit klar erkennen. Allerdings ist solch ein Blick nie ungetrübt von der Brille, die gerade opportun ist.

Die hässliche Seite der Demokratie

Somit ist Freiheit ein weitaus schwammigerer Begriff als man meinen mag. Es gibt objektive Kriterien: ob man eingesperrt ist, ob man sagen kann, was man denkt, tun darf, was einem gefällt. Schon diese kurze Liste demonstriert, dass Objektivität nur teilweise funktioniert. Was heißt es schon, tun zu dürfen, was einem gefällt? Dieser Aspekt ist ethischen, moralischen und gesetzlichen Grundlagen unterworfen. Bei Diebstahl ist das wenig umstritten; und selten wird es als Freiheitsberaubung empfunden, dass man nicht töten soll.

Wir sind allerdings in Demokratien relativ wehleidig, wenn es darum geht, dass unser Alltag eingeschränkt wird. Man meint, völlig selbstbestimmt zu sein. Ein Irrglaube, weil Demokratie darauf beruht, miteinander in Zusammenhang zu stehen und aufeinander Rücksicht zu nehmen. Das bedeutet, dass eine Wahl zuweilen nicht so ausgeht, wie ich das gerne hätte, oder ein Gesetz verabschiedet wird, das mir nicht gefällt. Ja, Demokratie ist unbequem und manchmal hässlich.

Wunderbare, komplizierte Freiheit

So hat nicht nur die Verfassung Mechanismen eingebaut, damit nicht jede/r ständig tun kann, was er oder sie will, sondern auch internationale Abkommen im Verfassungsrang. Dazu gehört die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie ermöglicht es tatsächlich, Freiheiten unter bestimmten Bedingungen und für eine geregelte Zeit auszusetzen, etwa dann, wenn die allgemeine Gesundheit in Gefahr ist.

Freiheit ist wunderbar und notwendig. Doch man muss erst lernen, sie zu verkraften. Denn Freiheit ist nicht halb so bequem, wie es einer romantischen Vorstellung entspricht. Wie jedes Recht, hat sie eine zweite Seite: die ethische Verantwortung, nicht nur die eigene Freiheit gutzuheißen, sondern auch die anderer zu beschützen. Freiheit beruht auf Gegenseitigkeit. Theoretisch weiß man das.

Fragile Freiheit

Die Pandemie führt uns die Fragilität von Freiheit schmerzlich vor Augen. Plötzlich, ohne Vorwarnung, darf man nicht mehr alles so machen, wie man es gewohnt war. Während die Vernunft sagt, dass dies in gewissem Umfang sinnvoll ist, tut es doch weh. Je länger es dauert, desto weniger Lust hat man darauf. Dann stoppelt man sich sein individuelles Konzept von Freiheit zurecht – auch das zu tun entspricht der Freiheit.

Doch Freiheit beginnt da, wo sie in Beziehung zu anderen agiert. Freiheit setzt das Sich-Kümmern voraus. Ansonsten ist sie egoistisch und selbstbezogen – bis hin zur Gewalttätigkeit. Dann ist Freiheit keine solche mehr.

Freiheit braucht Kultur

Allerdings setzt Freiheit eine Regierung voraus, die ihrer Bevölkerung ein Maß an Vernunft zutraut. Je weniger man uns Menschen vertraut und je mehr Freiheiten man wegnimmt, ohne uns in Eigenverantwortung zu stellen, desto mehr neigen wir BürgerInnen dazu, uns um unseren Egoismus zu kümmern. Dann ist meine Freiheit nur noch meine, und die anderer spielt keine Rolle.

Zu welchen Tragödien dies führen kann, zeigen uns Literatur, Theater und Kino vor. Sie waren immer schon Teil der sozialen und ethischen Bildung. Sie fehlen uns derzeit besonders. Demokratie und Freiheit sind nicht nur das, was die Verfassung vorschreibt. Daher braucht dieses Land endlich wieder Kultur, ehe wir vergessen, wer wir sind und was uns die Freiheit an Recht und Verantwortung bedeutet.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt