Revolution will heute vor allem Aufmerksamkeit

Protestierende müssen keine Bilder mehr zerstören, sondern sie erschaffen neue.

 

Schockstarre bei den einen, Siegestaumel bei den anderen – und wieder andere bereiten die Nachahmung vor. Auch wenn einige der Täter inzwischen verhaftet wurden, sind sie als Erstürmer des US-Kapitols die erklärten Sieger. Das wissen auch die Organisatoren ganz anderer Proteste. In den Foren der Querdenkerbewegung wird zu ähnlichen Kundmachungen der Unzufriedenheit aufgerufen. Man lernt aus Washington, dass die Gewalt vor allem eine bildliche sein muss.

Statt einer blutigen Revolution gibt es ab sofort den Bildersturm anderer Art. Man reißt keine Denkmäler mehr ein, man schafft neue, indem man sich via Selfie der Welt mitteilt. Man zerstört keine Bilder, wie die Ikonoklasten, sondern generiert Bilder von sich selbst an Orten mit Symbolcharakter. Es geht um die vollkommene Verunglimpfung, die zeigt, wie wehrlos die Demokratie sein kann.

Es ist hochmütig, die Protestierenden als Mob abzutun

Die Kapitolserstürmung hat zunächst nichts mit Protesten gegen die Corona-Maßnahmen zu tun. Doch beide Bewegungen zeigen, dass sich Teile der Bevölkerung vernachlässigt, betrogen, belogen fühlen und ihr Heil in der Menge Gleichgesinnter suchen. PolitikerInnen (nicht nur die Regierungsmitglieder), ihre Berater und Lobbyisten müssen lernen, dies tatsächlich zu begreifen.

Deshalb ist es widerwärtig, von einem Mob zu sprechen, wie es quer durch die Berichterstattung und politische Kommentierung gemacht wird. Der Begriff Mob unterstellt ein geringes Bildungsniveau, deutet auf eine soziale Herkunft, der man nicht entkommen könne und stammt aus einer Zeit, in der die Gesellschaft streng in Hierarchien eingeteilt war. Wie sehr sie es bis heute ist, führen die aktuellen Proteste, deren bunte Bilder durch die Medien gehen, beschämend deutlich vor.

Die moralische Abwertung gibt den Protestierenden recht

Die moralische Bewertung, die Protestierenden hätten nicht ins Kapitol oder nicht in den Bundestag dürfen, wird die gesellschaftliche Spaltung weitertreiben. Beide Seiten werden Argumente dafür finden, warum die einen ungebildet, verblendet und dumm und die anderen elitär, betrügerisch und abgehoben seien. Allein die Wortwahl zeigt einmal mehr den gesellschaftlichen Riss und trägt nichts zu einer friedlichen Transformation der Probleme bei.

Es wäre klüger, sich intensiver mit den Unterschieden sozialer Wirklichkeiten zu beschäftigen. Jeder weiß um die Misere, die durch die Corona-Maßnahmen angerichtet wurde. Man nimmt sie hin, im Dienste der Gesundheit. Und während der Schutz der Gesundheit sehr wohl eine Aufgabe des Staates ist, sind der Schutz vor Verarmung, das Recht auf Verwirklichung und das Recht auf Bildung ebensolche Menschenrechte im Verfassungsrang. Werden sie nicht gewährt, muss und darf es zu Protesten kommen.

Auf der Suche nach Stimmen

Die politische Linke müsste diese Themen aufgreifen, doch sie ist mit anderen Dingen beschäftigt. Stattdessen stellt sich ein Herbert Kickl, der den Verlust seiner Macht nicht verkraftet, vehement auf Seiten jener, die gegen die Maßnahmen der Regierung wettern. Er weiß, dass er keinesfalls in die unangenehme Situation kommen wird, Verantwortung übernehmen zu müssen. Er will Stimmen lukrieren, egal mit welcher Absurdität.

Die ÖVP war einst eine Wirtschaftspartei, die Grünen standen für Menschenrechte, die SPÖ kümmerte sich früher um die ArbeiterInnen. Sie alle haben ihre Ideale verraten. Da kann auch die FPÖ plötzlich gegen die Einschränkung der Bürgerrechte auftreten. Es bemerkt kaum noch jemand, wie surreal das ist.

Die Proteste brauchen keine Parteien

Doch so gerne sich Populisten auf die Proteste schmeißen, sie werden nicht mehr gebraucht. Die Kommunikationsplattformen schaffen die Öffentlichkeit. Man benötigt auch kein seriöses Manifest, wahrscheinlich nicht einmal einen politischen Plan außer jenem: Weg mit dem, was ist.

Hinzu kommt ein gewisser Spaßfaktor, den man sich redlich verdient hat, weil man unter der aktuellen Herrschaft der Eliten viel erdulden musste. Das ist weit weniger zynisch, als es klingen mag. Man wurde seiner Existenz wie seines Glaubens beraubt. Somit ist es gleichgültig, was wirklich hinter SARS-CoV-2 steckt. Es ist mental wohltuend, eine – am besten abstrakte und ungreifbare – Gruppe oder eine geheime Machtkonzentration als schuldig zu benennen. Dieser traumatische Gemütszustand sollte endlich ernstgenommen, anstatt als Querdenkertum abgetan zu werden.

Die Folgen des Sieges sind ungewiss

Proteste, die Bilder schaffen und Eventcharakter versprechen, passen perfekt in diese Zeit. Man braucht keine Waffen, sondern nimmt sich Zeit, es sich in einem Bild gemütlich zu machen. Und man genießt, was dann geschieht; einfach, weil man es kann und weil man dafür nicht mehr machen muss als das, was man als Teenager tun wollte. Jetzt hat man ein globales Publikum, das gebannt auf die Bilder starrt und Likes spendet.

Die Bilder aber sind nicht mehr aus den digitalen Archiven und damit aus den Köpfen der Menschen zu löschen. Es sind Bilder des Sieges. Es muss bloß noch verhandelt werden, wohin dieser Sieg führt. Es könnte eine neue Form der Diktatur sein, doch so weit denkt die Revolution von heute ebenso wenig wie jene von früher.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt