Politische Parolen: Der schöne Klang der Worte

Sie sind fast nie Zufall und halten selten, was sie versprechen.

 

Nicht die Corona-Masken rauben uns unsere Freiheit, sondern das Unvermögen, genau hinzuhören. Die menschliche Fähigkeit, die Augen zu schließen, existiert für das Gehör nicht. Man hört immer, auch wenn man sich die Ohren zuhält. Sofern keine Erkrankung vorliegt, kann der Mensch nicht nicht hören. In der Produktwerbung wird das ausgenützt, selbstverständlich in der Politik ebenso.

Das Prinzip des Ohrwurms kennt jeder. Man hört ein Lied so häufig, bis es nicht mehr aus dem Kopf geht. Es nervt und nervt – und irgendwann ertappt man sich dabei, dass man mitsummt. Ganz nach diesem Schema funktionieren politische Parolen. Meist werden die Begriffe genau überlegt, auch wenn sie wie zufällig hingeworfen wirken. Für die Verbreitung sorgen die Medien, besonders die sogenannten Sozialen Medien, denn Hashtags spiegeln die Sehnsucht, dazuzugehören, indem man sich auf den Einfall anderer setzt.

Asylanten und Balkanrouten

Hier spielt uns unser Gehör einen zweiten Streich. Nicht nur, dass wir die Marketingworte wehrlos hören, das Wiederhören und dadurch Wiedererkennen gaukelt den Ohren etwas Vertrautes vor. Das schafft ein Wohlgefühl. Darauf hofft das Marketing. Das passive Hören eines Schlagwortes geht durch Vertrautheit über in den aktiven Wortschatz. Das erste Verwenden eines solchen Begriffs kann zeigen, dass man informiert ist, vielleicht seiner Zeit sogar voraus ist, weil andere den Begriff noch nicht verwenden. Wie man ein neues T-Shirt in der aktuellen Modefarbe kauft, kleidet man sich in jene Worte, die gerade boomen und bemerkt es irgendwann gar nicht mehr. Einiges davon mag unpolitisch wirken, doch selten steckt keine Absicht dahinter.

Michail Gorbatschow prägte den Begriff der Perestroika, um den Umbau der Sowjetunion gegenüber der KPdSU zu verniedlichen. Freunde rechtsgerichteter Politik machten im Jahr 2015 aus geflüchteten Menschen kurzerhand „Asylanten“ und rasch verwendeten sogar SympathisantInnen den negativ besetzten Begriff. Der aktuelle US-amerikanische Präsident tat nicht nur mit dem Begriff fake news der Demokratie keinen Gefallen. Auch der österreichische Bundeskanzler Kurz hat ein gutes Händchen für solche Begriffe. Mit dem einfachen Satz „ich habe die Balkanroute geschlossen“ ließ sich ein Wahlkampf vorantreiben, auch wenn der Satz schlichtweg falsch war. Genau das fasziniert an solchen Schlagworten: Sind sie erst in aller Munde, spielt ihr Wahrheitsgehalt keine Rolle mehr, denn sie werden als kleine Sprachikonen überall einsetzbar.

Flexible Solidarität und alternative Fakten

Passend zu den Erinnerungen an den September 2015, dessen politische Nachwehen wesentlich aggressiver bis heute anhalten als die damals als Krise bezeichnete Situation, erinnert Sebastian Kurz an eine weitere absurde Wortschöpfung, die seit fünf Jahren kursiert: die „flexible Solidarität“. Bei all den großen Worten spielt es anscheinend keine Rolle mehr, dass Solidarität niemals flexibel sein kann, weil sie entweder ist oder nicht ist. Auch die vielzitierten „alternativen Fakten“ des Herrn Trump existieren nicht, weil zwar jeder Mensch eine andere Wirklichkeit herbeiwünscht, es aber nur Tatsachen gibt oder keine. Alternativ können Fakten ebenso wenig sein wie die Solidarität flexibel.

Kabarettisten haben große Freude mit solchen Begriffen, begabte Schüttelreimer noch viel mehr. Manch politische Wortschöpfung sollte man sich tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen. „Die sparsamen Vier“ etwa, ebenfalls ein Begriff, der nicht offenbarte, was dahinterstand: Der Wille, Aufmerksamkeit zu erregen und als kleines Land gemeinsam mit anderen kleinen Ländern gehört zu werden. Mit dem klug gewählten Namen gelang dies. Ob man ein Ziel erreichte oder nicht, man konnte sagen, man war dabei, redete mit, wurde gehört und bleibt dafür in Erinnerung.

„Wir schaffen es“, war kein Fehler. Die Reaktion war einer.

Politische Wortschöpfungen können auch nach hinten losgehen, etwa bei Angela Merkels wunderschönem Satz „Wir schaffen das“. Der Satz wurde nicht aufgrund seiner Menschlichkeit zum Desaster, sondern weil er sofort von Merkels Kritikern gekapert und als unsolidarisch mit der eigenen Bevölkerung umgemünzt wurde. Das lange Schweigen der Kanzlerin dazu verhinderte, dass sie die Herrschaft über die damaligen Worte zurückeroberte.

Wir hören und können nicht aufhören zu hören. Die Gewohnheit des Hörens bestimmter Parolen schaltet das kritische Denken aus. Der Kollateralschaden – übrigens auch das eine Parole und unerträgliche Verniedlichung eines Kriegsaktes – ist die Wahrheit. Doch es ginge auch anders, denn der Umstand, dass wir ständig hören, beinhaltet die Verantwortung, vorsichtig mit dem umzugehen, was wir hören. Wir haben flexible Kanzler auf dieser Welt und alternativ denkende Präsidenten. Verantwortlich dafür sind wir selbst, denn wir denken manchmal zuwenig, wenn wir hören, und hören dadurch keine Zwischentöne mehr, die uns darauf aufmerksam machen könnten, dass wir uns verhören, wenn wir glauben, was wir hören.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt