Sehnsucht nach neuen Gesichtern

Politik kann nicht bleiben, wie sie war

 

In Weißrussland hat sich schon vor dem Öffnen der Wahllokale einiges geändert. Zwar war es von Anfang an unwahrscheinlich, dass Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko die Wahlen offiziell verlieren würde, weil er neben Angst auch die Gewissheit auf Wahlmanipulation verbreitete, doch allein der Umstand, dass sich aufgrund der gewohnten Verhaftungen Oppositioneller eine neue politische Bewegung formierte und diese ausgerechnet auf drei jungen Frauen basierte, die gemeinsam für eine liberale, gerechtere und menschenfreundlichere Politik antraten, zeigt ein Phänomen, dass man weltweit beobachten kann: Die Bevölkerung will neue Personen und neue Ideen in der Politik, weil die alten Erzählungen, Methoden und Gesichter ihren Glanz sowie ihren Furchtfaktor verloren haben.

Lukaschenko hat es übertrieben. Das kolportierte Wahlergebnis ist eine Spur zu unglaubwürdig. Nichtsdestotrotz wird er seine sechste Amtszeit trotz aller Proteste antreten, doch es ist sichtbar geworden, dass sein Image verblasst. Das liegt an der Unverbrauchtheit seiner Gegenkandidatinnen, denen sofort Naivität unterstellt wurde, ein antifeministischer Reflex, der aus Gewohnheit auch von jenen kommt, die froh sein müssten, würde Lukaschenko entmachtet. Das Argument der Naivität aber hat wenig mit der Realität zu tun, denn Politik muss nicht immer so aussehen, wie sie Diktatoren und Parteien über Jahrzehnte gemacht haben.

Gewohnheit ohne Sicherheit

Naivität sieht man tatsächlich häufiger bei langjährigen PolitikerInnen als Neustartern. Erstere verlassen sich zu sehr auf die Macht der Gewohnheit. Was PolitikerInnen und Parteien, die lange an der Macht sind, eint, ohne dass sie politisch das Geringste miteinander zu tun haben, ist die Blindheit gegenüber notwendigen Veränderungen. In einer sich immer rasanter verändernden Welt, die eine Krise nach der anderen produziert, kann Politik nicht so bleiben, wie sie war.

Bis eine Partei sich ein neues Parteiprogramm verliehen hat, sind bereits andere Themen relevant. So gesehen hat die Idee der neuen ÖVP, nur mehr social media-gerechte Stichworte zu verbreiten, seine Berechtigung. Doch entsteht dadurch eine Oberflächlichkeit, in die sich alternative Fakten aller Art einfügen lassen, bis nichts mehr relevant und glaubwürdig erscheint. Auch lässt dieses Modell unberücksichtigt, dass sich mit der Schnelllebigkeit die Halbwertszeit politischer Gesichter verkürzt. So wirkt der junge Bundeskanzler in seiner dritten Regierungszeit trotz insgesamt weniger Jahre an der Macht altbacken.

Was lange funktioniert hat, muss nicht ewig Erfolg bedeuten

Man hat alles gehört und alles gesehen. Vertreten fühlt man sich dadurch nicht unbedingt. Die SPÖ macht es vor: Was man als alte Rezepte lange nützen konnte, stimmt mit der Lebenswelt der WählerInnen nicht länger überein. Die Parteiführung ist als Vertreterin ihrer Wählerschicht nicht mehr glaubwürdig, weil sie längst elitär geworden ist. Das zeigt sich in der Sprache, den kolportierten Themen aber auch in Details wie dem Kleidungsstil. Selbst der FPÖ ergeht es ähnlich.

Die alten Argumente, dass eingesessene Macht, Sicherheit und Fortschritt brächten, sind abgenützt. Die Bevölkerung glaubt ihren Machthabern immer weniger. Das betrifft nicht nur Weißrussland. In den USA stehen einander für die Präsidentschaftswahl zwei alte Männer gegenüber, deren einziges Kapital ihr Geld und die Machtapparate im Hintergrund sind. Von ihnen eine Politik zu erwarten, die den Auseinandersetzungen und Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht werden, wäre absurd. Hier ist der Begriff der Naivität besser angebracht als bei jenen drei Frauen in Weißrussland.

Würde für die Bevölkerung

Wenn libanesische DemonstrantInnen „Würde“ verlangen, wird deutlich, woran Politik krankt: Viele PolitikerInnen missachten die emotionale Verfassung der Bevölkerung. Die Explosion der vergangenen Woche bedeutet in all ihrer Tragik nur den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Was die aktuelle Regierung im Libanon eigentlich gesprengt hat, sind die alten Machtgefüge, die stets gleichen Netzwerke, die die Bedürfnisse der Bevölkerung ignorieren.

Österreichs PolitikerInnen können aus der Situation lernen. Es ist Zeit für neue Ideen, die vielleicht unorthodox scheinen mögen. Nur eine Politik, die auch einmal ein Wagnis eingeht und Neues ausprobiert, vermag den Spagat zwischen menschengerechtem, umweltumsichtigem und ökonomisch vernünftigem Handeln zu stemmen. Dazu braucht es glaubwürdige Personen, die von politischen Karrieren unbelastet sind und es wagen, jenseits der alten Netzwerke zu denken und zu agieren.

Diese Sehnsucht nach etwas Neuem, das nicht die Fortsetzung des Alten ist, zeigt sich in vielen Ländern, Regionen und Gemeinden. Im Libanon kämpfen die Menschen um Freiheit. Freiheit bedeutet auch, zumindest darauf vertrauen zu können, dass nicht alles Lüge und Eigeninteresse ist, was politisch umgesetzt wird. Ein wenig unverbrauchter Idealismus wäre heilsam. Naiv ist daran nur der Glaube der machthabend Versierten, dass sie unersetzbar und unbesiegbar wären.

Dieser Artikel ist auch erschienen auf: Dolomitenstadt